„Und manchmal, wenn du inne hältst für einen Augenblick. Wenn du statt in Gesichter nur in Augen blickst. Kannst du sie hören, die stillen Poeten.“
Immer wieder geht mir während meiner Arbeit diese Liedzeile von Julia Engelmann durch den Kopf. Vor allem wenn das mir anvertraute Kind nicht sprechen kann. Wir Pflegekräfte im Kinderhospiz kommen durch die Vielzahl unserer kleinen Gästen mit ganz unterschiedlichen Kommunikationsmitteln in Berührung. Manche Kinder sprechen in ihrer ganz eigenen Sprache. Diese versuchen wir während des Aufenthaltes zu erlernen.
Vokabelheft/ Sprachcomputer
Da gibt es schon mal ganze Vokabelhefte (von den Eltern geführt), in welchen die einzelnen Laute und Worte der Kinder übersetzt werden. Andere kommunizieren mit Hilfsmitteln, wie z.B. Sprachcomputern, die ganz speziell auf die Fähigkeiten des einzelnen Kindes angepasst sind. Manche werden mit den Augen angesteuert, andere funktionieren ähnlich wie ein „normales“ Tablet und lassen sich mit den Fingern bedienen. Leider sind sie oft nicht alltagstauglich. Der große Sprachcomputer kann nicht zum Spaziergang mitgenommen werden und das Vokabelheft liegt auch meist dann nicht griffbereit, wenn man es dringend bräuchte.
Mit Augen kommunizieren
Daher nutzen die meisten unserer Kinder zusätzlich die Kommunikation mit ihren Augen. Ihre geübten Eltern erkennen für gewöhnlich schon an der Dauer des Blinzelns, der Blickrichtung oder auch am bewussten Wegschauen, was los ist. Ob etwas wehtut oder nur die Langeweile plagt. Ob es hungrig oder durstig ist. Müde oder angestrengt.
„Neue“ Sprache lernen
Wir Pflegekräfte brauchen meist ein paar Tage, um die Blicke der Kinder ein wenig deuten zu lernen. Das kann für uns ganz schön herausfordernd sein. Wir lernen quasi mit jeder neuen Kinderversorgung eine ganz neue Sprache kennen. Und wenn die wichtigsten „Vokabeln“ dann endlich sitzen, neigt sich der Aufenthalt für die Familie meist schon wieder dem Ende zu.
Oh - wieder nicht verstanden
Dieser Lernprozess muss vor allem auch für die betroffenen Kinder unheimlich anstrengend und bestimmt oft frustrierend sein. Dann fließen schon mal Tränen oder man bekommt auf irgendeine andere Art und Weise ihren Unmut zu spüren, wenn der ausgewählte Teller die falsche Farbe hat oder man zum wiederholten Male nur am Schwimmbad vorbeiläuft, statt endlich reinzugehen. Das sind scheinbar nur Kleinigkeiten. Doch jedes gesunde Kind würde sich in solchen Situationen lautstark zur Wehr setzen, um seinen Willen durchzusetzen Die Eltern können dann schlichtend die richtige Tellerfarbe erfragen oder den Schwimmbad-Besuch für den Abend versprechen.
Die stillen Poeten hören
Bei unseren erkrankten Kindern ist das meist nicht einfach. Auch wenn wir alles versuchen, um nach dem Willen der Kinder zu handeln, gelingt es uns nicht immer. Wir finden den Grund für die erhöhte Herzfrequenz, die Tränen, das Augenrollen oder die motorische Unruhe manchmal heraus. Manchmal aber eben auch nicht. Wie gemein, wenn die Wünsche und Bedürfnisse nicht nur unerfüllt bleiben, sondern sogar noch missverstanden werden. Da darf man auch mal wütend werden. Oder traurig. Oder beides zugleich. Auch das erkennt man dann manchmal in den Augen der Kinder. Die Wut und die Trauer. Dann hört man sie flüstern. Die „stillen Poeten“. Deren Ängste, Sorgen und die Wut darüber, dass sie nicht sagen können, was sie so gerne sagen würden.
Mehr als nur sehen
Genauso hört man aber auch ein leises Lachen, wenn etwas runterfällt, ein zartes Mitsummen während der Musiktherapie oder ein geschäftiges Plaudern am Abend mit dem Lieblingskuscheltier im Bett. Wir lernen von den Kindern, dass unsere Augen mehr können als „nur“ sehen. Sie bringen uns bei, allein durch Blicke zuzuhören, mitzufühlen und zu verstehen.
Hinter die Gesichter sehen
In unserer heutigen oftmals lauten, schnellen und ungeduldigen Gesellschaft scheint mir diese Fähigkeit wertvoll und wichtig. Nicht nur im Umgang mit unseren kleinen Gästen. Jeder zwischenmenschliche Kontakt gibt mehr her als bloße Floskeln und Worthülsen. Das durfte ich während meiner Arbeit hier im Hospiz von den betroffenen Familien erfahren und lernen. Und dafür bin ich unheimlich dankbar. Lasst uns öfter innehalten. Nicht nur die Gesichter sehen, sondern all das, was dahinter steckt.
Annalena Kleß, Kinderkrankenschwester